Über die Magie der Musik und die schwierige Rolle der Musiktheorie

Das Musikerleben hat eine magische Eigenschaft: Es neigt dazu, alle klanglichen Elemente in eine Ganzheit zu überführen, in der Struktur und Konstruktion unbedeutend werden, zur Nebensache, zum Hintergrund. Es scheint, als wolle die Musik ihre Konstruktion selbst dem Ohr des aufmerksamen Hörers immer wieder entziehen. Kräfte und Wirkungen, Schönheiten und Verstörungen, die außerhalb des registrierenden Verstandes angesiedelt sind, setzen sich als Erlebnisinhalt über alle konstruktiven Details hinweg.
Musik scheint in dieser Hinsicht Bildern zu ähneln, in deren sinnlichem Eindruck die Vielzahl der Farbwerte und Pinselspuren aufgehen, die sich niemals selbst präsentieren, sondern stets im Dienste des Ganzen wirken sollten. Es gibt Musik, die dezidiert auf einen Wahrnehmungsvorgang hin geschrieben wurde, in dem die klanglichen Bestandteile untrennbar ineinander gleiten, zum Beispiel Klangflächen-Kompositionen. Die meiste Musik aber baut sich erkennbar aus wahrnehmbaren Motiven und Themen auf, erzeugt damit aber zugleich Energien und Entwicklungen, die den Hörer mitnehmen wie die Strömungen eines Flusses. Es treibt ihn durch Gischt und Wirbel, zieht in die Tiefe, der Hörer spürt wärmeres und kälteres Wasser, kommt zu temporären Ufern, und immer weiter, bis zum Ende der Klangreise.
Dieser emphatischen Beschreibung des Musikerlebens sei im Kontrast die Musiktheorie gegenübergestellt. Sie soll klangliche Mittel der Musik in Art und Gesetzmäßigkeit verständlich machen. Musiktheorie ist bei vielen Menschen negativ belastet, oft durch eigene Lernerfahrungen. Sie erinnern sich dunkel an „trockene“ Theorie, die für sich stehend zu lernen war. Die meisten Erwachsenen haben sich in ihrem musikalischen Leben dem Anspruch, Musik „verstehen“ zu müssen, gänzlich entschlagen. Sie leben mit Musik wie mit vielen anderen Errungenschaften und Produkten, die sich auf Elemente und Techniken stützen, die man aber nicht verstehen und nicht einmal kennen muss, um sich ihrer zu bedienen und sich an ihnen zu erfreuen. Warum sollte es mit Musik anders sein?
Die Musiktheorie bedarf jedenfalls der Rechtfertigung. Als unersetzlich sollte sie für jeden gelten, der lernt, Musik selbst zu machen. Sie sollte dazu beitragen, den Aufbau des Gegenstandes, dem man seine Zeit, vielleicht sein Leben widmet, zu erklären. Nicht abgeschoben auf eine Nebenspur, eine zusätzliche Unterrichtsstunde, sondern verbunden mit dem eigenen praktischen Tun und so, dass man noch besser begreift, was man jeweils spielt, also im Instrumentalunterricht! Leider stellt dieser sich bis heute nicht immer der beschriebenen Aufgabe.
Im schulischen Musikunterricht wird fast jeder mit Musiktheorie konfrontiert. Sie zählt zu den Lehrplan-Inhalten. Was ist das wichtigste Ziel dieses Unterrichts? Ich sehe es darin, das musikalische Erleben auf noch unbekannte Wege zu leiten, weit über die „jugendeigene“ Musik hinaus. Vielleicht noch mehr als in anderen Fächern ist es dabei nötig, sich mit den Lernenden in der Erschließung des Lerngegenstandes, der Musik also, zu verbinden, die Schüler zu Lern-Partnern zu machen. Bloßes Darbieten und Darlegen von Erläuterungen ist hier leider nicht zielführend: Denn Musik dringt nur zu dem, der bereit ist, sie zu erhören. Deshalb kann Musiktheorie hier nur eine nachgeordnete Rolle spielen. Der Musikunterricht muss sich zunächst der Wahrnehmungen der Schüler versichern und sie verlocken, der thematisierten Musik persönlich inne zu werden. Mit Sprache und anderen spannenden Mitteln können sie ihr Erleben zum Ausdruck bringen und kommunizieren. Im Anschluss können dann weitere Möglichkeiten, unter anderem die Musiktheorie, sich dabei bewähren, das musikalische Erlebnis noch einmal zu differenzieren und zu verbreitern. Bis durch die Magie eines erneuten Erlebens die erworbenen Kenntnisse vielleicht auch wieder „aufgehoben“ werden.
Weitere Überlegungen zur Musiktheorie, insbesondere in der Arbeit mit Kindern, finden sich hier.