Kids, Clicks und die Übersicht

Jeder Mensch findet seinen Zugang zu Musik: Musikstücke werden vertraut, wenn man sie öfter hört, sich vielleicht aktiv damit beschäftigt. Komponisten prägen sich ein, man erkennt ihre Portraits und findet sich in einzelnen Werken zurecht. An einer bestimmten Klangwelt erkennt man den einen oder anderen Musikstil und ordnet Komponisten und Werktypen zu.
Kinder und Jugendliche entdecken Musik allein und gemeinsam. Sie hören viel Musik, die anturnt oder chillt, funktional passend zu ihren Stimmungen und Situationen. Täglich kommen neue Musiktitel für sie auf den Markt. Immer wieder stoßen sie auch auf Musik, die sie noch nicht kennen, die vielleicht auch eine ganz eigene Sprache spricht. Es ist nicht zwingend, dass sie sich ihr öffnen. Das musikalische Lernen Heranwachsender ist eher episodisch und neigt aus psychologischen Gründen zur selbstversichernden Umgrenzung. Eine breit angelegte Sicht auf Musik bildet sich allenfalls in einer besonderen Biografie heraus.
Traditionelle Schulbücher (als Spiegelbilder von Musikunterricht) waren Jahrzehnte lang sorgsam gestrickte Leitfäden für ein Lernen, das auf eine erfahrungserfüllte Übersicht zuführen sollte. Sie boten ein klar dargelegtes Wissen zu Musik aus verschiedenen Zeiten und wohlüberlegte Frage-Impulse. Seit längerer Zeit richten sich Schulbücher nun aber stärker am „Lernen des Lernens“ aus: Werke und musikbezogene Informationen erscheinen oft austauschbar und primär als attraktive Aufhänger für einen Unterricht, der die Schüler in einen aktiven Prozess der Beschäftigung mit Musik führen und sie zu eigenen Statements und Recherchen anregen will. Darstellung und Erwerb einer als selbstverständlich gesetzten Wissensbasis sind stark in den Hintergrund getreten.
Nun ja − im Internet steht ja auch die Musik, klingend und als Wissensfundus, anscheinend für jeden bereit, und fast jedes Kind wächst mit dem Internet auf. Da man sich jedes Wissen durch ein paar Clicks angeblich immer neu holen kann, hat der geplante Wissenserwerb einen schweren Stand. Doch die Bildungschance ist nur theoretisch: Bei mangelnder Orientierungsfähigkeit kann man sich in der Informationsfülle schnell verlieren, und das Darstellungsniveau ist für Kids häufig unpassend. Ganz allgemein gesehen wird zudem das Surfen, aufgrund der Algorithmen der Suchmaschinen, oft in einen Vorgang der Ich-Bestätigung verwandelt, denn Big Brother denkt für jeden Nutzer mit: Wer etwas mehrmals sucht, findet dieses und Ähnliches immer schneller, anderes rückt weiter weg. Das unendliche Netz lenkt tendenziell jeden Nutzer in ein geschütztes Zuhause, in dem seine Vorlieben immer neu den Mittelpunkt ausmachen und der Blick über den Tellerrand von sekundärem Interesse ist.
Auf diesem (hier knapp skizzierten) Hintergrund habe ich einige Werke geschrieben, die gegenläufig zu den allgemeinen Trends den Versuch machen, in der Form von kompakten Printmedien moderne Übersichten zu Musik zu geben. Gestützt wurde ich dabei von Verlagen, die ebenfalls spüren, dass heutige Lernprozesse oft nicht mehr ein zukunftsfähiges Netz aus Wissen und musikalischen Beziehungen, mit hinreichenden Orientierungspunkten und erweiterbar zugleich, ausbilden.

Mehr über drei dieser Werke erfahren Sie über die folgenden Links:
−            Musikgeschichte − ganz klar ist vor allem für ältere Kinder und für Jugendliche, mit präzisen Hörtipps zu Musik aus Vergangenheit und Gegenwart, ohne stilistische Scheuklappen.
−            Basiswissen Musik ist ein Buch für Jugendliche und für jeden, der sich für Musik interessiert. Es ist als Schulbuch ab Klasse 7 zugelassen, aber auch für das Selbststudium geeignet.
−            Spielpläne Oberstufe wurde von mir mit einem Team erfahrener Musikwissenschaftler und ‑pädagogen erarbeitet. Es erschließt wesentliche Themenfelder des systematischen und historischen Musikwissens.

Über die Magie der Musik und die schwierige Rolle der Musiktheorie

Das Musikerleben hat eine magische Eigenschaft: Es neigt dazu, alle klanglichen Elemente in eine Ganzheit zu überführen, in der Struktur und Konstruktion unbedeutend werden, zur Nebensache, zum Hintergrund. Es scheint, als wolle die Musik ihre Konstruktion selbst dem Ohr des aufmerksamen Hörers immer wieder entziehen. Kräfte und Wirkungen, Schönheiten und Verstörungen, die außerhalb des registrierenden Verstandes angesiedelt sind, setzen sich als Erlebnisinhalt über alle konstruktiven Details hinweg.
Musik scheint in dieser Hinsicht Bildern zu ähneln, in deren sinnlichem Eindruck die Vielzahl der Farbwerte und Pinselspuren aufgehen, die sich niemals selbst präsentieren, sondern stets im Dienste des Ganzen wirken sollten. Es gibt Musik, die dezidiert auf einen Wahrnehmungsvorgang hin geschrieben wurde, in dem die klanglichen Bestandteile untrennbar ineinander gleiten, zum Beispiel Klangflächen-Kompositionen. Die meiste Musik aber baut sich erkennbar aus wahrnehmbaren Motiven und Themen auf, erzeugt damit aber zugleich Energien und Entwicklungen, die den Hörer mitnehmen wie die Strömungen eines Flusses. Es treibt ihn durch Gischt und Wirbel, zieht in die Tiefe, der Hörer spürt wärmeres und kälteres Wasser, kommt zu temporären Ufern, und immer weiter, bis zum Ende der Klangreise.
Dieser emphatischen Beschreibung des Musikerlebens sei im Kontrast die Musiktheorie gegenübergestellt. Sie soll klangliche Mittel der Musik in Art und Gesetzmäßigkeit verständlich machen. Musiktheorie ist bei vielen Menschen negativ belastet, oft durch eigene Lernerfahrungen. Sie erinnern sich dunkel an „trockene“ Theorie, die für sich stehend zu lernen war. Die meisten Erwachsenen haben sich in ihrem musikalischen Leben dem Anspruch, Musik „verstehen“ zu müssen, gänzlich entschlagen. Sie leben mit Musik wie mit vielen anderen Errungenschaften und Produkten, die sich auf Elemente und Techniken stützen, die man aber nicht verstehen und nicht einmal kennen muss, um sich ihrer zu bedienen und sich an ihnen zu erfreuen. Warum sollte es mit Musik anders sein?
Die Musiktheorie bedarf jedenfalls der Rechtfertigung. Als unersetzlich sollte sie für jeden gelten, der lernt, Musik selbst zu machen. Sie sollte dazu beitragen, den Aufbau des Gegenstandes, dem man seine Zeit, vielleicht sein Leben widmet, zu erklären. Nicht abgeschoben auf eine Nebenspur, eine zusätzliche Unterrichtsstunde, sondern verbunden mit dem eigenen praktischen Tun und so, dass man noch besser begreift, was man jeweils spielt, also im Instrumentalunterricht! Leider stellt dieser sich bis heute nicht immer der beschriebenen Aufgabe.
Im schulischen Musikunterricht wird fast jeder mit Musiktheorie konfrontiert. Sie zählt zu den Lehrplan-Inhalten. Was ist das wichtigste Ziel dieses Unterrichts? Ich sehe es darin, das musikalische Erleben auf noch unbekannte Wege zu leiten, weit über die „jugendeigene“ Musik hinaus. Vielleicht noch mehr als in anderen Fächern ist es dabei nötig, sich mit den Lernenden in der Erschließung des Lerngegenstandes, der Musik also, zu verbinden, die Schüler zu Lern-Partnern zu machen. Bloßes Darbieten und Darlegen von Erläuterungen ist hier leider nicht zielführend: Denn Musik dringt nur zu dem, der bereit ist, sie zu erhören. Deshalb kann Musiktheorie hier nur eine nachgeordnete Rolle spielen. Der Musikunterricht muss sich zunächst der Wahrnehmungen der Schüler versichern und sie verlocken, der thematisierten Musik persönlich inne zu werden. Mit Sprache und anderen spannenden Mitteln können sie ihr Erleben zum Ausdruck bringen und kommunizieren. Im Anschluss können dann weitere Möglichkeiten, unter anderem die Musiktheorie, sich dabei bewähren, das musikalische Erlebnis noch einmal zu differenzieren und zu verbreitern. Bis durch die Magie eines erneuten Erlebens die erworbenen Kenntnisse vielleicht auch wieder „aufgehoben“ werden.
Weitere Überlegungen zur Musiktheorie, insbesondere in der Arbeit mit Kindern, finden sich hier.

Mach’s gut, MGA!

Lange hast du durchgehalten, Musikalische Grundausbildung! 1967 nahm man dich in den Strukturplan des Verbandes deutscher Musikschulen auf, zusammen mit der Musikalischen Früherziehung. 1974 erschien dein erster Lehrplan, in dem man deine Aufgaben (etwas steif) so beschrieb: „… eine erste bewusste Begegnung mit Musik, eine erste systematische Unterweisung in Musik in einem zweijährigen Lehrgang für Kinder im Alter von etwa 6−8 Jahren“.
Mit den Inhaltsfeldern Musikübung, Singen und Sprechen, Elementares Instrumentalspiel, Musik und Bewegung (Rhythmik), Musikhören, Instrumenteninformation und Musiklehre solltest du die Kinder für Musik motivieren und für den nachfolgenden spezialisierten Instrumentalunterricht gut vorbereiten.
Viele Jahre lang hast du deine Aufgaben gut erfüllt. Ein Star warst du nie. Du hattest keinen attraktiven Namen. Für manche Kinder warst du eine Warteschleife. Die Konkurrenz von „unten her“ mit Musikalischer Früherziehung, aber auch frühem Instrumentalunterricht, nahm dir Interessenten weg.
Nun aber wird die Altersspanne, für die du zuständig bist, plötzlich wieder interessant! Verstärkt wird wieder in Gruppen unterrichtet, Zeit dafür gibt es nun auch in Schulen, die mit Musikschulen kooperieren. Alle möglichen Kinder besuchen dich nun und wollen natürlich ein zeitgemäßes attraktives Angebot erleben. Auch viele LehrerInnen wünschen sich weiterhin, dass sich jedes Kind im Spektrum seiner musikalischen Möglichkeiten entdecken darf. (Auch Kinder, die zielgerichtet zum Instrument geführt werden, sollten den Background deiner Musikalisierung kennenlernen dürfen.)
Deshalb gibt dich nach wie vor, an vielen Orten sogar wieder neu. Du bist präsent, verbirgst dich irgendwie aber auch. Du trittst unter verschiedenen Namen auf, hast diesen oder jenen Schwerpunkt, bist mal kürzer, mal länger. Wenn Fachkollegen über dich sprechen, sagen sie (weil es einfach praktisch ist) weiter oft „MGA“ zu dir.
Nun ist diese Name „MGA“ (entschuldige!) tatsächlich angestaubt, zumal du dich in der letzten Zeit erstaunlich verjüngt hast. Über den Namen diskutiert man hier und dort, über deine Daseinsberechtigung aber kaum. Deswegen sage ich zum Abschluss, bis du zu einem neuen Namen gefunden hast, gerne:
Mach’s weiterhin gut, MGA! Schön, dass es dich gibt. Jetzt auch mit einem funkelnagelneuem Konzept: hier.

Musik hören, aber wie?

Musik entfaltet sich stets in mehreren Dimensionen zugleich: melodisch mit dem Zeitverlauf der Tonhöhen, harmonisch mit deren vertikalem Zusammenspiel, rhythmisch mit der Abfolge der Tondauern und Pausen, und zudem feinst beleuchtet und schattiert von den Klangfarben der Instrumente und Stimmen. Meist ist Musik mehrstimmig: Auch dort, wo eine einzelne Stimme als Melodie unser Hören lenkt, tragen all die anderen Stimmen zu dem Eindruck, den wir von der Musik bekommen, bei. Alle sich in der Zeit entfaltenden Klänge und Klangfarben bilden zusammen die Musik, das Musikstück, um das es geht.
Wie soll man Musik hören − für das eigene Vergnügen, aber auch um der Musik gerecht zu werden? Mit dieser Fragestellung habe ich mich in pädagogischen Zusammenhängen immer wieder beschäftigt und anhand unterschiedlichster Musikbeispiele immer aufs Neue versucht, hilfreiche Tipps zu geben. Hier möchte ich eine Grundhaltung beschreiben, die sich auf viele Werke und Musikstücke, sogar weitgehend unabhängig vom Musikstil, anwenden lässt. Ich nenne sie einfach einmal das „Blickwinkel-Hören“, auch wenn diese Formulierung etwas ungelenk ist, denn eigentlich müsste es „Hörwinkel-Hören“ heißen, aber das wäre noch sperriger und sehr ungewohnt … − nein! Verschiedene Blickwinkel zu einer Sache oder auf einen Gegenstand einzunehmen ist uns aus dem praktischen Alltag vielfach vertraut: Nicht zuletzt können wir z. B. einen Raum mit all seinen Gegenständen von verschiedenen Blickwinkeln aus betrachten, von unten, von der Mitte oder auch von oben, unter dem Aspekt der Farben oder der Kontraste oder der optischen Gewichte, vielleicht auch des Geruchs usw. Ebenso kann man auch die Musik unter verschiedenen Blickwinkeln hören und dabei jedes Mal etwas anderes in ihr entdecken, was auch in ihr ist, selbst wenn man es bisher so nicht oder auch gar nicht gehört hatte. „Auf die Melodie hören“ ist nur ein Blickwinkel, wenn auch der wohl am häufigsten angewandte; ein anderer wäre also „mal nur auf die Begleitung hören“. Das kann sehr interessant sein – ausprobieren und dabei entdecken, wie geschickt und funktional hochwirksam  Begleitungen „gestrickt“ sein können!  Dann vielleicht diesen Blickwinkel weiter differenzieren: „nur den Bass hören“, oder in Rock und Jazz auch „nur Schlagzeug bzw. Percussion“. Im komplexen Orchestersatz kann der Blickwinkel „nur die Mittelstimmen“ ziemlich spannend sein, da tauchen plötzlich interessante Motive und Klangfarben in den Ohren auf …
Musik, sofern sie nur ein bisschen komplex ist, wird man nie „ganz“ hören können. Musik ist ein meist feingewebter Prozess, in dessen Struktur man immer nur weiter und differenzierend eindringen kann. „Das Ganze“ eines Musikstücks wird man kaum greifbar machen können, auch nicht mit den Erklärungsangeboten der Formenlehre. Denn die Form, die  man für ein Musikstück feststellt, ist nur ein weiterer Blickwinkel, vergleichbar vielleicht mit dem Grundriss einer Wohnung, die erst durch Ausstattung und Möblierung und durch das Leben ihrer Bewohner zu ihrer Einzigartigkeit findet.

Carl Orffs „Elementare Musik“ und die musikpädagogische Gegenwart

Carl Orff hat dem Begriff des Elementaren und der Elementaren Musik in der Musikpädagogik des 20. Jahrhunderts weltweit einen Platz gegeben, und seiner Interpretation viel Raum. Es gibt ein einschlägiges Zitat von ihm, das oft gesucht und manchmal unvollständig zitiert wird. Es lautet:

„Was ist elementar; Elementar, lateinisch elementarius, heißt ‚zu den Elementen gehörig, urstofflich, uranfänglich, anfangsmäßig‘. Was ist weiterhin elementare Musik? Elementare Musik ist nie Musik allein, sie ist mit Bewegung, Tanz und Sprache ver­bunden, sie ist eine Musik, die man selbst tun muss, in die man nicht als Hörer, sondern als Mitspieler einbe­zogen ist. Sie ist vorgeistig, kennt keine große Form, keine Architektonik, sie bringt kleine Reihenformen, Ostinati und kleine Rondoformen. Ele­mentare Musik ist erd­nah, naturhaft, kör­perlich, für jeden erlern- und erlebbar, dem Kinde gemäß.“ (Carl Orff, in: Das Schulwerk – Rückblick und Ausblick. In: Orff-Institut Jahrbuch 1963, Mainz 1963/1964,16)

Orff  leitet seine Definition von Elementarer Musik mit der Klärung des Wortes „elementar“ ein. Er findet darin eine gänzlich ursprüngliche Qualität, ohne jede zeitliche Ausprägung − „urstofflich, uranfänglich, anfangsmäßig“ − und ohne Altersbezug. Seine Definition enthält im Weiteren fachliche Beschreibungen und vergleichende Adjektiven, die ich kurz interpretieren will:

−            Erstens wird Elementare Musik in einem untrennbaren Tätigkeitszusammenhang gesehen, „mit Bewegung, Tanz und Sprache verbunden“.
−            Zweitens wird sie als eine Musik zum eigenen Tun festgelegt: nicht zum Hören, sondern zum Mitspielen.
−           Drittens werden dafür konkrete Materialstruktu­ren aufgezeigt: „kleine Reihenformen, Ostinati, kleine Rondoformen“. Wesensfremd seien ihr eine „große Form“ und „Architektonik“.
­−            Viertens wird sie anthropologisch begründet: Sie erscheint Orff als „naturhaft, körperlich, für jeden erlernbar, dem Kinde gemäß“. Auch das seltsame anmutende Wort „vorgeistig“ hat hier seinen Platz – im Menschen bereits verankert, bevor er sich spezielle, zeittypische geistige Ordnungen aneignet, könnte man sich hierzu hier denken.

Schon lange bevor Orff das angeführte Zitat verfasste, war in ihm seine Vorstellung von Elementarer Musik gewachsen.  Seine Definition nahm er im Rahmen eines Rückblicks auf das von ihm und Gunild Keetman verfasste Schulwerk „Musik für Kinder“ vor, dessen Grundbände bereits 1950-54 erschienen waren und das schnell in andere Sprachen und Kulturen übertragen wurde. Heute hat zumindest die deutschsprachige Ausgabe keine unmittelbare praktische Bedeutung mehr; die im „Orff-Schulwerk“ niedergelegten „konkreten Materialstrukturen“ (vor allem Texte, Lieder, Melodien) sind offenbar nicht mehr zeitgemäß und werden allenfalls vereinzelt aufgegriffen. Eine Revision des (deutschsprachigen) Orff-Schulwerks fand nie statt:

Hat denn die Definition Orffs zu Elementarer Musik noch Bestand? – Ja, Orffs Weitsicht ist faszinierend und wirkt bis heute, aufs Ganze gesehen, inspirierend. Immer wieder findet man, dass der eine oder andere Bestandteil des Zitats „herausgepflückt“ und als Referenz genommen wird: so der Zusammenhang von Bewegung, Tanz, Sprache (oder auch nur Teile davon). Oder dass, mit Berufung auf Orffs pädagogisches Konzept, das eigene Mitspielen in den Mittelpunkt gestellt wird (dazu gibt es ja die sog. „Orff-Instrumente“, übrigens ein Meilenstein der musikpädagogischen Innovation). Dass Kinder schon früh zu einem eigenen alterstypischen Musizieren finden und dass dabei ihre musikalische Kreativität gefördert wird, sind grundlegende Forderungen, die nicht zuletzt auch auf Carl Orff zurückgeführt werden. Schwieriger wird es mit der Struktur der Elementaren Musik: Improvisieren über Ostinati, rondotypische Wechsel von Solo-Tutti, ebenso Pentatonik  (wie in Band I des Orff-Schulwerks)  u. ä. findet man zwar in der Praxis immer wieder, wohl aber nicht mehr den Plan eines konsistenten Gefüges Elementarer Musik, wie Orff es in Worten knapp beschrieb und ausführlichst in Noten ausführte.

Für das Singen, Sprechen, Instrumentalspiel, Tanzen, seit vielen Jahren auch für das Musikhören von Kindern gibt es inzwischen eine unüberschaubare Zahl von Impulsen. Ihre Quelle und oft die alleinige Legitimationsebene ist „die Praxis“. Dort bleibt vieles in seinem ideellen Ursprung unbewusst, in der Zielsetzung (wenn überhaupt) blass begründet und in der Machart schwach. Auch die Musikpädagogik ist in unserer Gesellschaft von Pluralität, breitem Angebot und Konsum bestimmt. Eine übergreifende Orientierung und Sinnstiftung versuchen Lehrpläne anzuregen; sie machen sich jedoch immer unverbindlicher! Auch Unterrichtskonzepte können eine Orientierung geben. Zeitnah müssen sie immer wieder aktualisiert werden, um sich im Marktgeschrei behaupten zu können.

Musikpädagogik und einige verwandte Begriffe

Paidagogiké, altgriechisch, bedeutet „Erziehungskunst“. Folgerichtig wird die von Pädagogen ausgeführte praktische Erziehungsarbeit bis heute als Pädagogik bezeichnet.

Musikpädagogik heißt auch die Wissenschaft vom Lehren und Lernen von Musik. Sie erklärt Prozesse des musikbezogenen Lehrens und Lernens historisch, systematisch oder praktisch-empirisch, unter Heranziehung der Erkenntnisse zahlreicher Bezugswissenschaften. Musikpädagogik als Wissenschaft begann sich erst in den 1970er Jahren zu formieren (vgl. Sigrid Abel-Struth: „Materialien zur Entwicklung der Musikpädagogik als Wissenschaft“. Mainz 1970).

Musikerziehung? – Der Begriff scheint etwas aus der Mode gekommen, zu Unrecht, wie ich meine: Denn „Erziehung“ verweist auf persönlichkeitsbildende Aufgaben, die mit jedem fachlichen Lernen untrennbar verbunden sind, über die man sich aber viel seltener Rechenschaft gibt.

Elementare Musikpädagogik bzw. Elementare Musikerziehung: Sie hat die Absicht, jedem Menschen, mit dem ihm gegebenen Potential, die grundlegenden musikalischen Aktivitäten und Ausdrucksformen aufzuschließen: gestaltend mit Stimme und Instrumenten, hörend und verstehend. Häufig wird dabei von der Verbindung Musik und Bewegung oder auch von Musik und Tanz gesprochen – Verbindungen,die für mich aber nur exemplarisch auf die allgemeine Bedeutung des Erlebens und Lernens von Musik mit allen Sinnen hinweisen. Der Begriff „Elementare Musikpädagogik“, lange Zeit und gründend auf Carl Orffs Begriff der „Elementaren Musik“ am „Orff-Institut“ in Salzburg gebraucht und entwickelt, gewann mit den Jahren in immer weiteren Kreisen Statur: Inzwischen gibt es zahlreiche so bezeichnete Ausbildungsgänge.

Begriffe entwickeln sich historisch. Ich habe mich mit Musikpädagogik und mit Elementarer Musikpädagogik auf vielen Ebenen beschäftigt, theoretisch und praktisch, und ich finde die Unterscheidung eigentlich schade. Denn meines Erachtens gibt keine sinnvolle Musikpädagogik ohne den Bezug auf das eben kurz beschriebene Elementare; dieses muss stets integriert sein. Die Rolle der Elementaren Musikpädagogik besteht heute darin, Bedingungen und Möglichkeiten eines sinnvollen Anfangens bewusst zu machen. Dabei darf sie sich aber nicht einkapseln: Sie muss alle Wege zu einer individuellen Musikausübung, wie sie unsere Zeit bietet, im Keim schon mitdenken, anbahnen und öffnen. Ich wünschte, die Unterscheidung Musikpädagogik – Elementare Musikpädagogik würde irgendwann überwunden. Die Einteilung in eine Allgemeine Musikpädagogik (zuständig für Grundfragen und Grundlagen jeglicher Musikpädagogik) und in Spezielle Musikpädagogik (z. B. als Musikpädagogik für bestimmte Altersbereiche, Einrichtungen oder Instrumente) erschiene mir dann ausreichend.